Zurück in die Zukunft – nur auf dem Milchviehbetrieb von Jörg Riecken in Großbarkau

Autorin: Lea Kleymann

Ich muss gestehen, den Film zur Überschrift habe ich nie gesehen und trotzdem konnte ich mich mit dem Titel gut anfreunden. Denn er beschreibt das Gefühl, das ich auf dem Hof von Jörg Riecken in Großbarkau hatte, hervorragend!

Ein paar Monate nach dem ersten Interview in Dithmarschen bei York Wollatz, stehe ich nun kurz vor dem zweiten Interview. Es ist schon wieder trist in Schleswig-Holstein (S-H), die Blätter fallen so langsam, Dauernieselregen und eine wohlige Temperatur von 10 Grad. Perfektes Wetter für ein Interview. Begrüßt werde ich von Jörg, nachdem ich ehrlicherweise 5 Minuten zu spät komme, mit „Das ist aber mutig!“. Warum denn das? Ich sei die erste Person überhaupt, die mit dem Bus zum Hof gefahren sei, so Jörg.

Mit Jörg gehe ich von der Maschinenhalle über den Altstall und die betonierten Wege zum neuen Stall und anschließend zu den Kälbern. Am Ende lerne ich den Hofhund kennen und sehe ein paar Hühner für den Eigenverbrauch – der Eier versteht sich.

Insgesamt hält Jörg nach konventionellen Richtlinien 140 Milchkühe mit Nachzucht (d.h. Kälbern). Jede Kuh gibt durchschnittlich 11.000 Liter im Jahr bei Weidehaltung von April bis November.

In Deutschland werden unterschiedliche Tiere auf Weiden gehalten, dazu gehören z.B. Schafe, Ziegen, Pferde und Rinder.  Welches Weidesystem genutzt wird, hängt von verschiedensten Bedingungen ab: zugängliche Grünlandflächen, klimatische Bedingungen, betriebliches Management. „Aus landwirtschaftlicher Sicht ist die Weidetierhaltung eine Form der Nutztierhaltung, sie ist die ursprünglichste.“ 

Quelle: https://www.praxis-agrar.de/bundeszentrum-weidetiere-wolf/weidetiere-und-wolf/weidetierhaltung-in-deutschland

Gestern war der letzte Weidetag für Jörgs Kühe und das am 06. November. Eine so lange Weidehaltung in konventioneller Haltung mit Melkrobotern ist ungewöhnlich in S-H. Das fällt auch in der Nachbarschaft auf, denn die Nachbar*innen freuen sich, wenn sie Tiere grasen sehen. Durch die Weidehaltung wird nicht nur eine Form von Idylle gezeigt, sondern auch wie eine gute Haltung von Milchkühen mit hoher Milchleistung und gesunden Tieren aussehen kann. Ideen dafür bekam Jörg aus Irland. Dort werden Kühe häufig in Vollweidehaltung (Tag und Nacht bis zu 10 Monate auf der Weide) gehalten. Weidehaltung kann kostengünstiger und nachhaltiger sein, wenn sie gut gemanagt wird. Management ist einer der Dreh- und Angelpunkte der heutigen Landwirtschaft. Es klingt banal, ist es aber ganz und gar nicht.

 

Im Zentrum der Landwirtschaft, wie wir sie heute betreiben, steht leider nicht mehr nur das Tier. Sondern auch eine hohe Flächenproduktivität, Kapital, Gewinne und Wettbewerbsfähigkeit, die alle das Überleben des Hofes sichern. Auch Jörg ist sich dessen bewusst. Denn nicht ausschließlich das landwirtschaftliche Geschick, sondern vor allem das Spiel an der Börse muss beherrscht werden. Das eigene Einkommen ist Produkt aus Lebensmittelpreisen und Börsenspiel, so der Landwirt. Und natürlich aus den Förderungen durch die Gemeinsamen Agrarpolitik der EU (kurz GAP). Ein schwieriges Zusammenspiel für eine*n Alleinunternehmer*in, die*der jede*r Landwirt*in ist. Um mit allen neuen Regelungen und Gesetzen nicht überfordert zu sein, hat Jörg diese Aufgaben ausgelagert. Spezialisierte Berater*innen übernehmen nun, Gesetzestexte zu durchforsten und schicken relevante Informationen in Snackgröße ohne juristisches Kauderwelsch direkt aufs Smartphone.

Das hat die Arbeit in den letzten fünf Jahren für Jörg erleichtert, denn es wurde einiges angeschafft und gebaut. In Eigenleistung und mit einer Menge Geld aus unterschiedlichsten Förderungen kam ein neuer Stall mit einer Deckenhöhe von 11 m und drei Melkroboter hinzu. Mein erster Impuls zu fragen, ob bei dem ganzen Bauvorhaben und Stress, die Tiere in den Hintergrund gerückt seien, beantwortet Jörg mit einem klaren „Nein“. Denn meine eigene Erfahrung mit einem Melkroboter, die schon einige Jahre her ist, würde ich eher als negativ für die Landwirte beschreiben. „Ich habe in den Jahren noch nie so eine enge Beziehung aufgebaut zu meiner Herde, wie in den sieben Monaten in denen wir sie an den Roboter gewöhnt haben“, so Jörg. Nicht nur weil Jörg mich immer wieder darauf hinweist, merke ich, wie ruhig es in seinem Stall ist. Keine hektischen, sondern ruhige Tiere, die sich Zeit lassen, die liegen und deren Klauen gesund aussehen. Alles positive Eigenschaften der Weidehaltung, so Jörg.

„Es fängt alles mit der richtigen Liegebox an.“, so der Landwirt. „Rinder ruhen vor allem im Liegen“ (Hoy, 2009, S. 92) . Es gibt viele unterschiedliche Eigenschaften, die sich auf die Gesundheit von Kühen in der Haltung niederschlagen., z.B. die Anzahl und Beschaffenheit der Liegeplätze, das Stallklima, das Futterangebot, das Alter, der Rang oder die Trächtigkeit. Es ist – wie in vielen Bereichen unseres Lebens – ein großer Kreislauf mit multiplen Zusammenhängen. Eine Liegebox ist nicht nur eine Liegebox! Wenn sie gut konzipiert, trocken und frei von Schmutz ist und die Tiere sich dort gerne reinlegen können, kann eine Liegebox das Fundament für eine gute Haltung sein. Rinder liegen im Schnitt 7 bis 14 Stunden am Tag. Untersuchungen zeigen, dass sie für eine erhöhte Liegezeit bereit sind zu arbeiten (Hoy, S. (2009): Nutztierethologie, Eugen Ulmer KG, DOI: 10.36198/9783838533124). Die Gesamtliegedauer von Rindern im Stall ist somit ein Indikator für Liegekomfort und Wohlbefinden.

Ist das die Zukunft der Milchkuhhaltung? Der Appell der Natur- und Umweltschutzverbände ist eindeutig. „Weidehaltung – gut für Kuh, Klima und Artenvielfalt“, so ein Beitrag vom BUND vom 29. September 2023. „Ich habe immer gehört, das geht nicht. Den Satz höre ich immer“, sagt Jörg. Es scheint doch zu gehen, mit einer Menge Geld, Willenskraft und Mut zur Veränderung in der schnellen Welt der heutigen Landwirtschaft.

In Großbarkau bei Jörg Riecken scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Doch auch er merkt Unterschiede im Klima und der Natur. Auch dieses Jahr war wieder ein Trockenjahr. Landwirt*innen schneiden ihr Grünland abhängig von der Bewirtschaftungsart des Hofes bis zu fünfmal im Jahr. Aus diesem sogenannten „Schnitt“ wird Silage gemacht. Durch die Trockenheit ist der zweite Schnitt in diesem Jahr für Jörg, wie für viele andere Landwirt*innen, ausgefallen. Die Rettung oder eher die Notlösung war dann die Ganzpflanzensilage, die zur Ergänzung von futterknappen Regionen oder Jahren herangezogen wird. „Sonst wäre im Silo nichts drin“, so Jörg.

Silage entsteht durch Gärungsprozesse unter luftdichten Bedingungen aus Pflanzen, z.B. dem sog. Schnitt. Es handelt sich hierbei um Futtermittel, die häufig im Winter an Tiere wie Schafe, Ziegen, Schweine und Kühe verfüttert werden. Silage kann aus einer Vielzahl von Pflanzen hergestellt werden, z.B. Getreide, Leguminosen, Mais. Von einer Ganzpflanzensilage wird dann gesprochen, wenn die ganze Pflanze siliert wird. Hierbei wird die gesamte oberflächliche Biomasse der Pflanze geerntet. 

 

Jörg scheint zufrieden zu sein mit seinem Hof, der Milchleistung, seiner Herde, den veränderten Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt. Doch er ist unzufrieden mit den andauernden Gesetzesänderungen. Die Umsetzung immer neuer Gesetze geht meist erheblich an den Geldbeutel. Jedes Mal, wenn ein neues Gesetz kommt, dann kommt natürlich auch eine Reaktion. Und die Reaktion kann auch das Aufgeben sein. „Jedes Mal, wenn ein Gesetz kommt, vernichten wir wieder die kleinen Betriebe.“ Kleine Betriebe haben häufig weniger finanzielle Mittel als größere, diverser aufgestellte und das kann an die Substanz gehen. 

Und nun Bio?

Der logische nächste Schritt für den Hof in meinem Kopf wäre die Zertifizierung zum biologischen landwirtschaftlichen Betrieb. Für Jörg ist das aber nicht so wichtig. Eine meiner letzten Fragen, wenn es denn die Zeit und die Menschen hergeben ist: Was würdest du auf eine Plakatwand am Kieler Hauptbahnhof oder der Kieler Innenstadt drucken lassen.

Der Landwirt antwortet: 

„Tierwohl ist mir wichtiger als ein Biozertifikat!"

Jörg Riecken 

Meiner Meinung nach, macht Jörg das Richtige. Seinen Kühen geht es – soweit ich es beurteilen kann – gut. Er scheint in seinem Wirkkreis das zu machen, was für seine Tiere und für ihn funktioniert.

Er stellt nicht das System selbst infrage, sondern agiert innerhalb des Systems, geht auf Leistung und stellt das Tier in den Vordergrund. Und darin liegt der Unterschied! Die Frage, ob wir heute noch einen solchen Stall mit so vielen Milchkühen benötigen, wenn die Milch dahin geht, wo sie nicht gebraucht wird, steht nicht im Raum. Auf eine verdrehte Weise, finde ich das auch in Ordnung – bis jetzt.

Er bedient den Markt, ohne ihn zu hinterfragen. Am Anfang unseres Interviews sagt er direkt, dass es schwierig ist, die eigenen Interessen, die eines Familienvaters, die des Betriebs und die der Welt, wozu auch die SDGs (Sustainable Development Goals) gehören, zusammen zu bringen. In diesem Prozess befinden wir uns doch alle. Bei mir sieht es nicht anders aus als bei Jörg oder auch York (vorheriges Interview). Das eigene Verhalten, sei es unternehmerisch, landwirtschaftlich oder persönlich können wir nicht weiterhin abkoppeln von den Problemen und Machtverhältnissen der Welt. Dass S-H in einer komfortablen Lage als landwirtschaftlicher Gunststandort liegt, ist richtig. Das macht uns als Bürger*innen aber nicht frei von der Verantwortung, das Machtgefälle der Welt zu hinterfragen. Landwirtschaft muss sich hier als großer Hebel verstehen, den es endlich zu betätigen gilt. Nachhaltigkeit, ökonomische Sicherheit und Soziales ist kein Widerspruch, sondern kann Hand in Hand gehen! Die SDGs und die globale Sicht auf eigene Verhaltensweisen werden eine immer größere Rolle einnehmen. Dessen sollte sich auch die Landwirtschaft und die Landwirt*innen in S-H bewusst werden. Deshalb gehen wir ins Gespräch mit landwirtschaftlichen Akteur*innen und auch Politiker*innen, um die Herausforderungen der Branche und die der SDG-Umsetzung zusammen zu denken.

Bei Jörg und seinem Hof mache ich mir dahingehend aber keine Sorge. Er ist, wie er eigens sagt, ein „early adapter“ und passt sich hervorragend an.

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