Neue Protestkulturen

Mit Milchtee, Topf und Tastatur

Einblicke in die (digitale) Protestkultur Myanmars

Text: Janin Thies

Vom anderen Ende der Welt erreichen uns Protestplakate in englischer Sprache, freche Comics und Online-Videos von Punkbands wie „RebelRiot“, die mit rotem Rauchfeuer durch die Straßen ziehen und in bekannter Rhythmik wütend ins Mikro schreien. In der „Tagesschau“ verfolgten wir, wie Tausende Menschen in Myanmar drei Finger als Zeichen des Widerstandes gegen die Machtübernahme des Militärs in die Höhe strecken, und sehen damit die gleiche Geste, die in der international erfolgreichen Jugendbuch und Filmreihe „Die Tribute von Panem“ ebenso dazu diente, sich gegen eine Jahrzehnte dauernde Diktatur zu stellen. Was wir sehen, entspricht nicht dem Bild von einem Land, in dem das Militär seit 1962 quasi das Sagen hat. Es ist der Blick auf die junge Generation – Z genannt – die in den vergangenen zehn Jahren nicht abgeschottet gelebt hat, sondern sich über viele Kanäle mit der Welt verbunden fühlt.

Dieser Welt schickt sie die Aufforderung, sich solidarisch zu zeigen. Mit Technik und Kreativität sorgt sie dafür, dass
uns diese Bilder trotz Gewalt, Zensur und der Abwesenheit internationaler Medien erreichen.

Weltweit nutzen Aktivist*innen soziale Medien und Blogs, um sich zu vernetzen und Informationen außer Landes zu bringen, wenn klassische Medien unter Kontrolle stehen. Spätestens seit dem Arabischen Frühling 2009 sprechen wir zum Beispiel von der „Twitter-Revolution“. Die Arbeit ist und bleibt gefährlich. Häufig geraten Aktivist*innen insbesondere durch ihre große Online-Reichweite ins Visier. Das Barometer der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen zählt im August 346 Journalist*innen (darunter 50 aus Myanmar) und 99 Blogger*innen bzw. Bürgerjournalist*innen in Haft.

Nicht frei, nicht fair - doch die Basis einer neuen Generation

Plakate in englischer Sprache – der Protest richtet sich bewusst an die Weltgemeinschaft.

Um zu verstehen, welchen Stellenwert die freie Meinungsäußerung im Internet für die Menschen in Myanmar hat, werfen wir einen Blick in die jüngere Geschichte des Landes. Im November 2020 erhielt die Partei der Nationalen Liga für Demokratie um Aung San Suu Kyi mehr als 80 Prozent der Wählerstimmen und ging als Sieger gegen die Unionspartei des Militärs hervor. Dieses wiederum weigerte sich, die Wahl anzuerkennen, und berief sich auf die Verfassung von 2008, die eine langsame Demokratisierung vorsieht, dem Militär weiter. Einfluss und mit Artikel 417 die gesamte Machtbefugnis
in bestimmten Notfällen gibt. In den frühen Morgenstunden des 1. Februar kam es zum Putsch und zur Verhaftung der gewählten Parlamentarier*innen.

Über Nacht wurde die demokratische Entwicklung des Landes um mehr als 20 Jahre zurückgeworfen. Und mit ihr eine Generation von jungen Menschen, die damit aufgewachsen sind. „Da sind gerade viele Emotionen im Spiel“, berichtet AHM Abdul Hai, der in Bonn an seiner Doktorarbeit über journalistische Bildung in Myanmar schreibt und als interkultureller
Promotor für das Eine Welt Landesnetzwerk arbeitet. Oft entladen sich diese Gefühle insbesondere über soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Instagram, da diese Medien populär sind und ihnen ein größeres Vertrauen entgegengebracht werde als den klassischen Kanälen. Der Grund dafür liegt auf der Hand:

„Bis 2010 hatte die Bevölkerung keine Möglichkeit, etwas privat zu veröffentlichen. Es gab keine täglich aktualisierten Medien. Zeitungen, das Radio und Fernsehen waren von der Regierung kontrolliert.“

Seit 2010 sei es zur schrittweisen Öffnung gekommen.

„Offiziell wurde die Zensur 2012 abgeschafft. Beinahe zeitgleich wurden SIM-Karten deutlich günstiger und der mobile Internetzugang leichter“, erklärt Benedict Mette-Starke, der im Rahmen seiner Dissertation an der Universität Konstanz zu Digitalrechtsaktivismus im Bereich der freien Meinungsäußerung und digitaler Regierungsführung in Myanmar forscht.

Und doch galten die Rechte nie als sicher. Es gab in den letzten Jahren immer wieder Phasen, in denen versucht wurde, den Austausch über Facebook & Co. zu unterbinden und Seiten abzuschalten. Hai berichtet, dass es einerseits möglich war, Medienschulen mithilfe ausländischer Stiftungen oder Rundfunksender wie der Deutschen Welle aufzubauen,
und andererseits Journalist*innen und Blogger*innen inhaftiert, gefoltert und sogar getötet wurden.

Ein Land mit Perspektive(n)

Insbesondere im Tourismus war es bis zum Februar 2021 auch klarer Wille des Militärs, das Land für die Welt zu öffnen. „Als Reiseziel klang Myanmar vielversprechend. Der Tourismus steckte noch in den Kinderschuhen, schien Land und Leuten aber gut zu tun“, erzählt Elke Weiler. Für ihren Meerblog nahm die mittlerweile in Nordfriesland lebende Reisejournalistin 2018 an einer Pressereise nach Myanmar teil. „Ich hatte das Gefühl, dass die Menschen zufrieden sind, sie sich mehr leisten können und durch den Tourismus auch in die Bildung ihrer Kinder investieren können.“ Sie berichtet vom einfachen Leben abseits breit getretener Touristenpfade, von Stelzenhäusern am Inle-See und Schlafabteilen, die nur durch breite Stoffbahnen voneinander getrennt waren. Die Menschen habe sie als sehr freundlich und zurückhaltend erlebt.

Umso überraschender und toll findet sie, wie vehement sich die Bevölkerung nun zur Wehr setzt.

„Nach der Vorgeschichte kann ich mir vorstellen, dass die Menschen einfach nicht mehr zurück wollen. Der, wenn auch faule, Kompromiss hatte das Land immerhin etwas vorangebracht.“

 

Kristin Peters und Ei Wai Phyo waren 2019 Teil eines Forschungstandems zwischen Universitäten in Kiel und Yangon.

Ein Jahr später, 2019, hätte Elke Weiler eine weitere Schleswig-Holsteinerin am Inle-See treffen können. Zu dieser Zeit forschte Kristin Peters in Myanmar für ihre Masterarbeit im Fach Hydrologie an der CAU Kiel. Auch sie berichtet von der großen Bedeutung des Sees für den heimischen Tourismus und hat gemeinsam mit ihrer burmesischen Tandempartnerin untersucht, welche Einflüsse dieses Ökosystem gefährden. Sie führten zahlreiche Interviews und haben ihre Gegenüber als offen, gastfreundlich und herzlich kennengelernt. Auch zwischen den Universitäten in beiden Ländern gab es zu dieser Zeit bereits ein gutes Netzwerk,das die Kommunikation und Organisation vereinfacht hat.

Dieses Netzwerk wurde ab 2020 über das Projekt SEWAMM (Sustainable ecohydrological water management under
global change in Myanmar) zwischen der Uni Kiel und drei Partneruniversitäten in Yangon und Mandalay weiter
gestärkt. Ziel ist die gemeinsame Ausbildung von jungen Wissenschaftler*innen im Bereich des nachhaltigen Wassermanagements.

Als Kristin Peters im Februar die ersten Bilder vom Militärputsch sah, war sie schockiert: „Ich konnte mir nicht vorstellen,
dass so etwas tatsächlich dort passiert. Mir hat das sehr leid getan, gerade weil ich gesehen hatte, dass viele positive Entwicklungen schon in Gang waren, auch was Forschung, Bildung und Zusammenarbeit angeht. Das ist ein großer Schritt rückwärts.“ Tatsächlich erklärt Anne-Kathrin Wendell vom SEWAMM-Projektteam in Kiel, dass aktuell zwar versucht werde, den Austausch aufrechtzuerhalten, die meisten Wissenschaftler*innen an den Partneruniversitäten in Myanmar jedoch suspendiert sind und nur schwer an stabile Internetverbindungen herankommen.

Grenzenlose Solidarität

Bunt, laut, transnational: Die Punkband RebelRiot verbindet den Protest mit ihrer Musik. Foto:KaungKaung

Weder Kristin Peters noch Elke Weiler können sich daran erinnern, im Rahmen ihrer Reisen einmal kein „Netz“ in Myanmar gehabt zu haben. Die Kommunikation mit den Partner*innen, Beiträge über soziale Medien und Mailverkehr liefen reibungslos. Dem setzte das Militär im Februar zunächst ein Ende. Zuallererst wurde das Internet teilweise ausgeschaltet, dann Facebook-Seiten blockiert. Immer wieder kommt es zu Stromausfällen

„Die Aktivist*innen haben extrem flexibel reagiert, sind auf andere Netzwerke wie Twitter ausgewichen und haben sehr schnell neue kreative Lösungen gefunden“,

berichtet Benedict Mette-Starke. Den Versuchen, das Land erneut abzuriegeln, steht eine wachsende Gruppe technikaffiner Aktivist*innen gegenüber, die untereinander und weit über die Grenzen des Landes hinaus in einem losen Verbund stehen. Unter dem Hashtag #MilkTeaAlliance solidarisieren sich beispielsweise Menschen aus Thailand, Taiwan, Hongkong und Myanmar furchtlos mit Tipps, Text und Kunst. „Long live the TOTALitarisme“ steht da in großen Lettern über einer Karikatur. Sie zeigt den burmesischen Junta-Befehlshaber Min Aung Hlaing. Mit Zigarre im Mund erhebt er eine blutbeschmierte Hand zum Sektgruß, während aus seinen Taschen Geldscheine quellen. Der französische Energiekonzern Total bekommt einen neuen Slogan mit dem Hinweis, wem dessen Überweisungen für ein Erdgasprojekt in Myanmar nützen: „Total Energies – keep killing.“ Aufgrund des internationalen Drucks hat Total sowie weitere beteiligte
Konzerne Ende Mai rückwirkend zum 1. April die Zahlung von Dividenden an das Land gestoppt.

Geschichte einer Protestkultur

Die digitale Milchtee-Allianz, die mit den Protesten in Hongkong 2020 entstand, eint die Beteiligten nicht nur über ihre Gewohnheit, Tee anders zu trinken als in China. Auf dem Twitter-Banner sehen wir Hände, die Tassen und Becher einer Reihe von Handfeuerwaffen entgegenhalten. Die Illustration erinnert an David gegen Goliath. Sie weckt die seltsame Hoffnung, dass das Sprichwort irgendwie recht behält und die Teetrinker den längeren Atem haben. Denn Digitales Engagement ist kein neues Phänomen in Myanmar.

„Diese Form des Aktivismus hat sich bereits in den 90er-Jahren formiert“, berichtet Benedict Mette-Starke. Zu diesem
Zeitpunkt seien Aktionen über E-Mail-Listen koordiniert worden, die von der burmesischen Diaspora ausgingen. In den 2000er-Jahren haben Betreiber von Internetcafés vor Ort angefangen über ihr Leben und über Politik zu bloggen. 2007 gelangte Myanmar durch die Niederschlagung von Straßenprotesten, an denen sich Hunderttausende Mönche, Schüler*innen und Zivilist*innen beteiligt hatten, auf die internationale Tagesordnung. In dieser Zeit halfen die Blogger*innen bereits dabei, die Ereignisse im Land zu dokumentieren. Auch international gab es Solidaritätsaktionen. Am 4. Oktober veröffentlichten Blogger*innen nur einen einzigen Artikel: ein rotes Banner mit dem Text „Free Burma!“.

Aus den Internetbewegungen entstanden Initiativen und Vereine, die die digitale Entwicklung ihres Landes mitgestalten
wollten. Benedict Mette-Starke hat recherchiert, dass zivilgesellschaftliche Organisationen beispielsweise am Aufbau eines Fonds zum gerechten Netzausbau beteiligt waren: „Eine Abgabe der Telekommunikationsunternehmen sollte dazu verwendet werden, auch die Regionen anzuschließen, in denen der Ausbau nicht rentabel ist. 2020 wurde Geld daraus allerdings zum Aufbau einer Datenbank mit biometrischen Daten verwendet.“

Sehr aktiv sei in Myanmar in den vergangenen Jahren über Hassrede in den sozialen Medien und die Verantwortung von Netzwerkanbietern wie Facebook diskutiert worden. Im Vielvölkerstaat kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Gruppen. Insbesondere der Umgang mit der Minderheit der Rohingya geriet in den internationalen Fokus, zuletzt mit der systematischen Vertreibung fast einer Million Menschen 2017.

Gewalt und Hass werden auch in Myanmar zusätzlich im Netz ausgetragen und geschürt. Dies zu erkennen und entsprechend zu sanktionieren, gehört zu den großen Herausforderungen im digitalen Zeitalter. In Myanmar habe sich für viele Aktivist*innen gezeigt, dass es mehr braucht als starre Gesetze oder Algorithmen, um dem entgegenzuwirken, erklärt Mette-Starke:

„Diskutiert werden also Strategien zum eigenen
Umgang mit Hass-Kommentaren, aber auch inwieweit es zur Unternehmensverantwortung von Facebook gehört, solche Probleme zu lösen. Durch lange Zensurerfahrung sind die Menschen sehr gut darin, Code-Worte zu finden. Zudem gibt es auf dem Staatsgebiet drei Sprachfamilien mit unterschiedlichen weiteren Sprachen. Es braucht Leute mit sprachlicher und kultureller Kompetenz, die Hassrede erkennen, wenn sie sie sehen.“

Die Straße und das Netz

Treiber der Proteste sind die jungen Menschen des Landes – Generation Z genannt. Sie zeigen sich selbstbewusst und unerschrocken, obwohl das Militär auch mit Waffengewalt gegen die Protestierenden vorgeht. Foto: KaungKaung

Ein Prinzip, das nicht selten als Eigenheit digitaler Netzwerke gesehen wird, verbindet sich also mit einer Bewegung, die alle Lebensbereiche erfasst hat. Analog oder digital – zivilgesellschaftliches Engagement lässt sich nicht mehr in diese Kategorien einteilen. Nicht nur, aber gerade in Notsituationen geht es darum, Ressourcen und Informationen über alle verfügbaren Kanäle zu teilen. Es geht darum, Menschen so direkt wie möglich zu erreichen, etwa indem in Myanmar illegale Radioprogramme aufgesetzt werden, in denen Eltern von Soldaten und Polizisten ihre Kinder ansprechen und darum bitten, die Waffen niederzulegen. Aktivist*innen aus den Protestwellen von 1988, 2015 und von heute tauschen jenseits vorhandener Spannungen zwischen den Generationen ihre Erfahrungen aus. Wenn keine Internetverbindung besteht, der Strom ausfällt oder Seiten gestört werden, finden Menschen andere kreative Möglichkeiten,
Technik zu nutzen und miteinander in Kontakt zu treten.

Sowohl aus außergewöhnlichen Situationen als auch aus dem digitalen Alltag gibt es weltweit einen großen Erfahrungsschatz. Es lohnt sich, sich innerhalb der Zivilgesellschaft über Grenzen und Netzwerkblasen hinweg über diese Erkenntnisse auszutauschen, um die moderne Gesellschaft gemeinsam zu entwickeln. Benedict Mette-Starke bestätigt die Ansicht, dass ein internationaler Austausch, beispielsweise mit Aktivist*innen in Myanmar, dazu beitragen kann, über verschiedene Strategien im Umgang mit Hassrede zu diskutieren und den Begriff grenzübergreifend zu definieren. Darüber hinaus kann das Wissen über das Verhältnis zu Telekommunikationsunternehmen, Netzneutralität und den Ausbau der Infrastruktur zur Lösung ähnlicher Fragen in Europa beitragen. Nicht zuletzt geht es um die internationale Vernetzung, beispielsweise der Diaspora-Gruppen mit den Gruppen in den Herkunftsländern.

„Aus entwicklungspolitischer Sicht war es nie leichter, mit den Leuten vor
Ort in direktem Austausch zu stehen, aktuell brennende Themen zu erfahren und in Notsituationen
schnelle Unterstützung zu leisten.“

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Wie geht’s weiter in Myanmar - hier finden Sie Informationen

Über die aktuellen Entwicklungen in Myanmar können Sie sich über verschiedene digitale Kanäle auf dem Laufenden halten.
Auf Facebook gibt es eine offene Vernetzungsgruppe der Initiative German Solidarity with Myanmar Democracy. Dort werden viele aktuelle Informationen ausgetauscht und auch gemeinsame Aktionen geplant. Die Initiative selbst hat ebenfalls eine Webseite und plant einen Newsletter. Diesen gibt die Stiftung Asien-Haus bereits alle zwei Monate heraus. Auf der Webseite der Stiftung gibt es zudem aktuelle Informationen der Burma-Initiative inkl. Presseschau und Info-Veranstaltungen. Einen Newsletter gibt ebenfalls der wissenschaftliche Verein Myanmar Institut e.V. heraus. In englischer Sprache berichten Journalist*innen aktuell u. a. auf www.frontiermyanmar.net. Und wer sich dafür interessiert, wie der Protest künstlerisch zum Ausdruck kommt, wird zum Beispiel bei www.threefingers.org fündig.

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