Für eine Erde der Menschlichkeit
Im Gespräch mit Albert Recknagel vom Kinderhilfswerk terre des hommes
Interview: Benjamin Hellwig
Seit mehr als 50 Jahren engagieren sich Mitarbeiter und Ehrenamtliche des Kinderhilfswerks terre des hommes weltweit für den Schutz und die Rechte von Kindern. ZUKUNFT.GLOBAL im Gespräch mit Vorstandsmitglied Albert Recknagel über Mutmacher, herausfordernde Veränderungen und das Verknüpfen von konkreter Hilfe vor Ort mit strukturellen Verbesserungen der Lebensbedingungen.
Guten Tag Herr Recknagel, terre des hommes setzt sich seit der Gründung vor 50 Jahren weltweit für die Einhaltung von Kinderrechten ein. Sind die Herausforderungen kleiner geworden?
Leider nicht, sie haben sich allerdings verändert. Man kann positiv vermerken, dass sich beispielsweise die Überlebenschancen für Neugeborene oder auch die Einschulungsraten für Kinder weltweit verbessert haben. Gleichzeitig aber hat die Gewalt gegen Kinder wie sexueller Missbrauch, sklavenähnliche Ausbeutung, oder auch Vertreibung aus der Heimat in den letzten 20 Jahren nicht abgenommen. Deutlich zugenommen haben durch Umweltverschmutzung und Klimawandel verursachte Krankheiten.
Wie und wann begann ihr persönliches Engagement für das Kinderhilfswerk, gab es für Sie einen Schlüsselmoment?
Mein Engagement fing bereits während meines Studiums in Münster an, ich war in einer Solidaritätsgruppe für Mittelamerika aktiv. Wir betrieben Aufklärungsarbeit zur damaligen Militärdiktatur in Guatemala, informierten über die Unterdrückung und Ermordung von Eingeborenen und armen Kleinbauern. Hierüber kam ich Anfang der 1980-er Jahre in Kontakt mit terre des hommes. 1985 bewarb ich auf eine Stelle als Länderreferent für Peru und nahm diese an. Später war ich einige Jahre als Regionalkoordinator in Südamerika.
Wie setzt terre des hommes Spendengelder ein, wie läuft die Hilfe vor Ort konkret ab?
Generell ist uns wichtig, dass die Projekte von lokalen Trägerorganisationen durchgeführt werden. Terre des hommes finanziert, begleitet und kontrolliert die Projekte. Das ist unser fundamentales Prinzip, weil wir glauben, dass die Verantwortung und Expertise im Land selber gestärkt werden muss. Ein zentrales Element ist die Partizipation, meiner Erfahrung nach die Grundvoraussetzung für Ownership und Nachhaltigkeit. In jedem Kontinent haben wir ein sogenanntes Regionalbüro, in nahezu jedem der 34 Projektländer einen Projektkoordinator. Sie sind Einheimische, die die Kultur, Sprache und Gebräuche der Menschen vor Ort kennen. Gleichzeitig sind sie erste Anlaufstelle für Initiativen vor Ort. Umgekehrt geht unser Mitarbeiter aber auch auf das Land, um zu prüfen, wo Kinder unterdrückt, ausgebeutet oder vernachlässigt werden. Er sucht daraufhin Organisationen, die sich für diese Kinder stark machen. Sie beantragen in der Folge eine Förderung, die wir hier in Osnabrück prüfen. Wird diese bewilligt, entsteht ein Vertrag und unser Mitarbeiter besucht mindestens zweimal jährlich das Projekt. Er prüft, ob die Ziele erreicht werden, die Buchhaltung stimmt und der Umgang mit den Kindern funktioniert. Wenn die Zwischenberichte stimmen, wird die nächste Rate an die Partnerorganisation überwiesen. Ist das Projekt abgeschlossen, wird darüber entschieden, ob wir es erneut fördern.
„Tausende Jugendliche kämpfen für eine gesunde Umwelt und eine lebenswerte Zukunft.“
Sie steuern heute als verantwortlicher Vorstand die Hilfsprogramme in 34 Ländern. Welche Projekte können Sie hevorheben?
Eines der Schlüsselprojekte, von dem ich viel gelernt habe, ist eine Organisation im peruanischen Lima. Kinder unterstützen ihre Eltern als Straßenverkäufer, Schuhputzer oder Parkwächter und ermöglichen mit diesen Einnahmen ihren eigenen Schulbesuch. Sie decken Kosten, die die Familien nicht aufbringen können. Gleichzeitig lernen sie, Verantwortung zu übernehmen. Natürlich aber muss man darauf achten, dass dies nicht in ausbeuterischen Situationen stattfindet. Um dem entgegenzuwirken, haben sich die Kinder organisiert und ihre eigene Gewerkschaft gegründet. Ein weiteres Projekt, das für mich prägend ist, wurde von Kindern und Jugendlichen in Thailand und Kambodscha initiiert. Sie leben alle in der Nähe des Flusses Mekong, der dortigen Lebensader, und haben sich zum Wohl der Umwelt und der Menschen und gegen Verschmutzung und Staudammprojekte organisiert. Aus dieser kleinen Initiative ist mittlerweile ein internationales, von terre des hommes unterstütztes Jugendnetzwerk geworden. Tausende Jugendliche aus Asien, Afrika und Lateinamerika kämpfen für eine gesunde Umwelt und eine lebenswerte Zukunft.
„Wir müssen uns zusammenschließen, um an Gewicht gegenüber Wirtschaft und Politik zu gewinnen.“
Welchen Stellenwert haben Netzwerke für terre des hommes?
Die Bedeutung von Netzwerken ist ungemein gewachsen. Wir müssen uns als internationale Nichtregierungsorganisation globalisieren, anders ist unsere Stimme nicht hörbar. An erster Stelle steht für uns unsere eigene internationale Föderation in Genf und Brüssel, die die zwölf nationalen Mitgliedsorganisationen von terre des hommes vertritt. Sie koordiniert und bündelt Kampagnen und Lobbytätigkeiten und über sie versuchen wir auf die Politik Einfluss im Sinne der Kinderrechte zu nehmen. Daneben kooperieren wir auch mit anderen Kinderhilfsorganisationen wie beispielsweise World Vision oder Save the Children. Es reicht heutzutage nicht mehr, dass jeder für sich auftritt. Wir müssen uns zusammenschließen, um an Gewicht gegenüber Wirtschaft und Politik zu gewinnen.
Bundesweit hat terre des hommes an die 100 Mitgliedsgruppen, darunter auch Gruppen in Lübeck und Mölln/Ratzeburg. Was leisten sie und was begeistert Menschen, sich ehrenamtlich für das Kinderhilfswerk zu engagieren?
Diese lokalen Gruppen sind unser Gesicht vor Ort. Sie sind der Erstkontakt zur Bevölkerung und zu potentiellen Spenderinnen und Spendern. Gleichzeitig sind sie diejenigen, die vor Ort auf der Straße über die weltweiten Verhältnisse informieren. Sie sind aber auch Impulsgeber und Korrektiv für uns, berichten, was die Leute vor Ort gut finden oder kritisieren – und sie erden uns und unsere entwicklungspolitischen Ansätze. Ich denke, sie begeistert die Basisnähe zu den Kindern, Jugendlichen und Partnerorganisationen im globalen Süden. Die gemeinsamen Plattformen, auf denen sich unsere Ehrenamtlichen mit Partnerorganisationen und jungen Menschen treffen und über Ziele von terre des hommes diskutieren und abstimmen, unterscheiden uns von einigen anderen Hilfswerken.
Ein weiterer Fokus des Engagements in Deutschland liegt auf der Hilfe für geflüchtete Kinder und ihre Familien...
Wir arbeiten bereits seit mehr als 25 Jahren mit sogenannten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und ihren Familien zusammen. Diese Inlandsarbeit ist in den letzten beiden Jahren sehr stark gewachsen. Auch hier halten wir an unserem Prinzip fest, über lokale Initiativen zu arbeiten. Wir fokussieren uns dabei auf die Aspekte Traumabewältigung und soziale Integration. Ein Projekt läuft hier in Osnabrück: Der Kleingärtnerverein „Deutsche Scholle“ war im 1. Weltkrieg entstanden, auch, um Kriegswitwen und vertriebene Familien zu versorgen. Diese Ursprungsidee haben sie sich erhalten und gaben freie, verwilderte Parzellen an Menschen, die nach ihrer Flucht aus Ländern des Nahen Ostens bei uns ankamen. Die Flächen wurden dann gemeinsam urbar gemacht. Das Projekt trägt einerseites dazu bei, die Flüchtlinge in die deutsche Gesellschaft zu holen, andererseits hilft es, Menschen hier vor Ort für die Schicksale der geflüchteten Menschen zu öffnen.
„Wir schaffen gewaltfreie Räume, in denen Kinder angstfrei und friedlich leben, spielen und lernen können.“
Welche Ziele wollen Sie mittelfristig erreichen?
Wir wollen, dass die Zahl der geschlagenen, missbrauchten, ausgebeuteten oder vertriebenen Kinder zurückgeht. Und dass denen, die entsprechendes Leid erfahren haben, fachmännisch geholfen wird. Dafür schaffen wir sogenannte gewaltfreie Räume, in denen Kinder angstfrei und friedlich leben, spielen und lernen können. Zudem setzen wir uns dafür ein, dass sich die Umweltbedingungen und damit die langfristigen Entwicklungschancen für heutige und zukünftige Generationen nicht weiter verschlechtern. Dazu bearbeiten wir die Politik auf allen Ebenen, von der UN bis zur Kommune, um beispielsweise das Recht der Kinder auf eine intakte Umwelt anerkennen zu lassen. Wir verknüpfen die Hilfe für Kinder in Not, ganz konkret vor Ort, mit dem Einsatz für die Verbesserung von schlechten Lebensbedingungen. Dazu braucht es eine Internationalität unserer Organisation – die Projektarbeit als solche kann man wahrscheinlich noch die nächsten tausend Jahre weiter machen.
Welche Augenblicke des Engagements von terre des hommes machen Ihnen Mut für die Zukunft?
Für mich sind es vor allem die Erlebnisse, die ich von meinen Projektbesuchen mitnehme. Menschen, denen es so viel schlechter geht als uns, zeigen einen unfassbaren Glauben an Veränderungen und den Willen, eine bessere Zukunft zu gestalten. Egal, ob es eine alleinerziehende Mutter aus einem Slum in Neu-Delhi ist, Minderjährige, die beim Goldabbau in Peru ausgebeutet werden, oder Flüchtlingskinder aus Simbabwe, die in einem südafrikanischen Lager ums Überleben kämpfen: sie alle eint dieser Wille, ihre Lage zu verbessern. Dazu brauchen sie Hilfe, sowohl von innen als auch von außen. Terre des hommes ist nach wie vor bereit, diese Unterstützung zu geben. Dazu brauchen wir Spenden – und das ist meine zweite Hoffnung: Solange es solidarische Menschen bei uns gibt, engagierte Weltbürger, die bereit sind, über den eigenen Tellerrand zu blicken, solange werde ich den Mut nicht aufgeben, dass eine friedlichere, gerechtere und nachhaltigere Welt möglich ist.
Weitere Infos zum Kinderhilfwerk terre des hommes
und der Möglichkeit zu Spenden unter www.tdh.de
Das Spendensiegel des Deutschen Zentralinstituts für Soziale Fragen (DZI) bescheinigt terre des hommes einen sparsamen und transparenten Umgang mit Spenden und Seriosität in der Werbung.