Hintergrund

Beim Barte der Miesmuschel

Zu Besuch an den Langleinen der Kieler Meeresfarm

Text: Benjamin Hellwig
Fotos: Fridtjof Stechmann, Benjamin Hellwig

Mehr als die Hälfte der auf unseren Tellern landenden Meerestiere stammt heute aus Aquakultur. Doch der Lösungsansatz für das Überfischungsproblem stößt auf Kritik, Experten hinterfragen besonders die Zufütterung mit Mehl aus Wildfisch. Die Kieler Meeresfarm GmbH setzt bei ihrer Miesmuschelzucht in der Förde auf eine Methode, bei der keine Zufütterung notwendig ist.

 

„Mein Bart ist mein Byssus“, sagt Dr. Tim Staufenberger, streicht sich durchs Haar unterm Kinn und lacht. Der Vergleich zwischen den Haftfäden einer Miesmuschel und seinem Gesichtshaar sei etwas konstruiert, meint er. Aber er untermale nun mal seine Hingabe für die länglichen, blauschwarzen Meerestiere. Wir stehen an Deck der „Pontylus“, einem mit 15-PS-Außenbordmotor ausgestatteten Ponton samt Kran und Sortieranlage. „Unsere fahrende Terrasse“, kommentiert der Meeresfarmer und erklärt unterwegs zu seiner bio-zertifizierten Aquakultur in der Kieler Förde, wie er sich den Bart der Miesmuscheln zunutze macht.

Sobald sich das Wasser im Frühsommer auf zwölf Grad Celsius erwärmt, beginnt die Fortpflanzungsphase der Miesmuschel. Millionen von Larven sind dann im Wasser. Nach ihrer planktischen Phase streben sie danach, sich anzusiedeln. „Beim Zug mit der Strömung ketten sie sich mit ihrem bartähnlichen Byssus an allem Möglichen in der Förde fest: Schiffsrümpfe, Steine, Stege. Da sind sie nicht wählerisch“, sagt Staufenberger.

Meeresfarmer Dr. Tim Staufenberger

Den bis zu zwei Millimeter großen Organismen bietet Staufenberger Seile mit rauer Oberfläche an, sogenannte Muschelsaatkollektoren. Er und seine Mitarbeiter streifen die Muscheln anschließend in sorgfältiger Handarbeit von den Seilen ab und füllen sie einzeln in lange, engmaschige Strümpfe aus einem Polypropylen-Baumwollfaden-Gewebe. An einem System aus Langleinen, die an Bojen hängen, setzen sie die Muschelsocken direkt unter die Wasseroberfläche. Nach sechs Wochen löst sich der Baumwollfaden auf, die kleinen Miesmuscheln können dann auf die Außenseite des Strumpfes wandern. Auf der Suche nach festem Untergrund finden sie Halt auf den mit großen Muscheln überwachsenen ein Jahr alten Socken. Die ersten Erntetage sind im September.

„Schiffsrümpfe, Steine, Stege. Da sind die Miesmuscheln nicht wählerisch.“

 

Dr. Tim Staufenberger

In einer Zeit überfischter Weltmeere wächst die globale Nachfrage nach Meerestieren aus der Zucht. Mittlerweile kommen mehr als die Hälfte aller marinen Erzeugnisse auf unseren Tellern aus Anlagen wie jener von Tim Staufenberger. Die Methoden jedoch unterscheiden sich erheblich voneinander, viele davon stehen in der Kritik, wenige gelten als nachhaltig. Vor allem Futtermittelbedarf und -herkunft werden oftmals als fragwürdig angesehen. So ist zumeist Fischmehl aus sogenannter Gammelfischerei die Grundlage für Fischfutter in der Aquakultur, die enthaltenen Nährstoffe wie Fettsäuren sind essentiell für das Wachstum der Zuchttiere. Diese Form von Veredelung hat jedoch einen Preis: Für ein Kilogramm Garnelen wird beispielsweise das Fünffache an Wildfisch verfüttert, für Thunfisch das Zwanzigfache.

Abfahrt – Die Pontylus auf dem Weg zur Meeresfarm.

Besonders Edelfische wie Dorade, Thunfisch oder Lachs sind dabei unter Verbrauchern sehr beliebt. „Auf der ökotrophischen Stufe ist das in etwa so, als würden wir an Land Kühe fangen, damit Wölfe füttern, um dann Wolfssteak zu essen“, sagt Prof. Dr. Martin Visbeck, Ozeanograph vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. „Gesellschaftlich stellen wir uns doch bereits die Frage, ob es angesagt ist, Rinder und Schweine zu essen – die dann eher der Sardelle entsprächen,“ ergänzt er. Eine Diskussion, dass man aus Sicht des Energiestoffkreislaufs besser Algen als Edelfisch essen sollte, werde zumindest in Deutschland nicht geführt. Visbeck ist auch Sprecher des Kieler Exzellenzclusters „Ozean der Zukunft“. Für den Forschungsverbund arbeiten rund 250 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Christian-Albrechts-Universität, dem GEOMAR, dem Institut für Weltwirtschaft und der Muthesius-Kunsthochschule. Ziel der Initiative ist es, wissenschaftliche Grundlagen in der Ozeanforschung zu bilden, aus denen zukunftsfähige Handlungsoptionen und Nutzungsstrategien für das Weltmeer entstehen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert bundesweit noch weitere 42 Exzellenzcluster unterschiedlicher Themenbereiche.

 

Meeresforscher Prof. Dr. Martin Visbeck. Foto: GEOMAR

Nach Visbecks Einschätzung ließen sich viele aktuelle Fragen rund um Überfischung, Verschmutzung und Versauerung der Ozeane nicht rein naturwissenschaftlich beantworten: „Gute Lösungen profitieren von der disziplinübergreifenden Betrachtung. Das Kieler Exzellenzcluster versucht Lösungsvorschläge zu geben“, sagt der Meeresforscher und schränkt ein: „Viele unserer Ansätze werden gerne angenommen, aber manche sind so revolutionär, dass sie im politischen Raum überhaupt nicht zu verkaufen wären. Grundsätzlich engagieren wir uns sehr breit und denken rechtliche, soziale und ökonomische Dimensionen mit.“

Der Forscherverbund verbindet die klassischen Disziplinen der Meereswissenschaften mit den Rechts- und Lebenswissenschaften, der Mathematik und Informatik und der Ressourcenökonomie. Zudem beleuchtet er die Zukunftsfragen rund um die Ozeane auch aus der ethischen Perspektive. „Beim Thema Aquakultur stellen wir uns beispielsweise die Frage, wie viele Zuchtfische in einen Käfig dürfen. Da gibt es aktuell zu wenig gesetzliche Regelungen. Bei Schweinen ist das ja bis ins Detail definiert“, sagt Visbeck. Seiner Meinung nach müsse die marine Aquakultur auch den Beweis antreten, dass sie energetisch intelligenter ist als die Wildfischerei.

„Gute Lösungen profitieren von der disziplinübergreifenden Betrachtung.“

 

Prof. Dr. Martin Visbeck
Abgestreift – Mitarbeiter Nissen erntet Miesmuscheln für die Beprobung.

Langsam treibt die Pontylus an die Bojen der Meeresfarm nahe des Kieler Flughafens heran. Staufenberger macht das Boot fest. Heute steht die wöchentliche Probenahme an, um die Organismen auf Unbedenklichkeit prüfen zu lassen. Die Muscheln werden während der Erntezeit auf Algentoxine, Salmonellen und Viren überwacht. Zudem lässt Staufenberger das Phytoplankton untersuchen, um eine eventuell auftretende toxische Algenblüten zu erkennen. Mit einem Kran hebt sein Mitarbeiter Nikolai Nissen eine Langleine aus dem Wasser und pflückt sich eine der Muschelsocken. Dicht an dicht besiedeln Miesmuscheln unterschiedlichster Größe das Gewebe. Nissen streift sie ab, sammelt die großen ein und packt sie mit sterilen Handschuhen in eine Kühlbox, die später der Lebensmittelkontrolleur am Ufer entgegennehmen wird.

 

Im Gegensatz zur traditionellen Muschelfischerei, bei der Schiffe mit Schleppnetzen den Meeresboden abernten, sei die Zuchtmethode der Kieler Meeresfarm als bedeutend schonender, meint Staufenberger. Und anders als in der Fischzucht ist keine Zufütterung notwendig. „Meine rund zehn Tonnen Miesmuscheln filtern das gesamte Wasser der Kieler Förde einmal am Tag durch“, sagt Staufenberger. Sie ernähren sich dabei vom vorbeischwebenden Plankton. Dieses Prinzip sorge für eine lichtdurchlässigere Umgebung, was auch dem Wachstum der in direkter Nachbarschaft gezüchteten Makroalgen zugute kommt. Diese nehmen die gelösten Abbauprodukte der Muscheln auf und entziehen sie so dem Fördewasser. „Und durch die Photosynthese der Algen kommen die Muscheln auch noch an frischen Sauerstoff. Eine hervorragende Zusammenarbeit – sie düngen sich sozusagen gegenseitig“, freut sich Staufenberger. Die stationäre Lage der im Wasser hängenden Socken ermöglicht zu jeder Zeit Rückschlüsse auf Alter und Qualität der Miesmuschen. Das Produkt ist damit bio-zertifizierbar. Im Mai 2012 erhielten die Miesmuscheln der Meeresfarm das Siegel der EG-Öko-Verordnung. Sie sind damit die ersten Bio-Produkte aus ökologischer Marikultur in Deutschland.

 

Angedockt – Eine Feuerqualle findet Geschmack an einem Muschelstrumpf.

Staufenberger lenkt die Pontylus zurück an seinen Heimat-Steg. Er ist überzeugt von seinem Konzept, auch wenn er mit seiner Farm nicht die Welt ernähren könne, wie er sagt. „Aber ich kann das Bewusstsein dafür schüren, wie man mit sehr einfachen und nachhaltigen Mitteln ein Auskommen generieren kann. Es ist ein positives Beispiel, das Menschen in anderen Teilen der Welt ermutigen kann“, sagt der 39-Jährige. Die Kieler Meeresfarm will er angepasst und behutsam wachsen lassen und nebenbei weitere zukunftsweisende Forschungsprojekte unterstützen. „Algen und Muscheln besitzen ebenso wertvolle Inhaltsstoffe wie die in vielen Aquakulturen verfütterten Wildfische. Vielleicht können Miesmuscheln eines Tages dazu beitragen, dass man auf Fischmehl und -öl verzichten kann. Das wäre ein kleiner Beitrag gegen das Problem der Überfischung.“

 

 

Aufgereiht – Bojen halten das System aus Langleinen der Meeresfarm.

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