Vor Ort

Johannis im Rampenlicht

Regionale Superfrüchte sorgen für mehr globale Gerechtigkeit

Text: Janin Thies

Vorbereitung ist alles. Online wie offline. Foto: Janin Thies

Es ist einer dieser Abende, an denen wirklich alles passieren kann. Das erste Mal. Aufregendes „Neuland“. Ein wenig schüchtern haben wir uns in den letzten Monaten angenähert. Eine Videokonferenz hier, ein gemeinsames Web-Seminar da. Heute wird es ernst. Und wie der Zufall es will, spielt eine junge Frau auf dem Bar-Klavier am Eingang der Alten Mu den Titelsong eines modernen Romantik-Märchens, während es hinter der Glastür allmählich heiß hergeht. In nur 30 Minuten startet eine Premiere: Das Bündnis Eine Welt rollt regionalen Superfoods den roten Teppich aus, verbindet Konsumkritik mit Kochkurs. Und das auch noch online.

Die Idee war gar nicht so spektakulär. Wir haben diese Formate ja schon offline durchgeführt“, wird Frauke, die den Kochkurs im Rahmen des BEI-Projektes zu den Globalen Nachhaltigkeitszielen (SDGs) organisiert hat, am Ende des Abends gestehen. Doch was Marcel, Sabrina und Julian von der Cocina CoWorking Kitchen an diesem Abend auf die Beine stellen, ist großes Kino. Innerhalb kurzer Zeit haben sie ihr Reich, in dem Kulinarik-Tüftler normalerweise mit veganer Schokolade oder der perfekten Schärfe für fermentiertes Kohlgemüse experimentieren, in ein Fernsehstudio verwandelt.

Vier Kameras sind am Geschehen beteiligt. Zwei Strahler leuchten die mobile Kochinsel aus. Hier ist alles aufgeräumt. Jede Zutat findet in kleinen Schraubgläsern und Porzellanschälchen Platz. Die Messer glänzen im Schein-werferlicht. Auf der anderen Seite des Raums sorgen Mischpult, Kabelsalat, diverse Monitore, lackierte Holzstühle mit Sitzpolster, ein Wäschekorb und eingehäkelte Blumenvasen für einen leicht chaotischen Retro-Touch, der die gesamte Szene wieder näher an die Realität holt.

Kochkurs mal anders. Zu Beginn gab es Input zum Thema Superfood Foto: Janin Thies

Davon ist im Kameraausschnitt natürlich nichts zu sehen. Julian, der heute für die Technik zuständig ist, setzt auf Perfektion. Sabrina schnappt sich, ganz analog, eine Kreidetafel. Sie hat jeden Arbeitsschritt im Kopf und wird Marcel, der das 3-Gänge-Menü vor der Kamera zubereitet, als Souffleuse zur Seite stehen. Auf der linken Seite, Fußbreit hinter einer Boden-markierung, die die Grenze des Sichtbaren (aus Sicht der Hauptkamera) markiert, richtet sich Frauke ein, um die Videokonferenz zu starten. Die Spannung steigt. Die Teilnehmer*innen betreten das Setting. Wir sehen Pärchen, Wohngemeinschaften und Einzelpersonen in ihren Küchen stehen, teils bunte Schürzen, teils die ersten Gläser in der Hand. Kurzum – bereit für Infotainment.

Martina von Brot für die Welt schaltet sich für einen Input dazu und berichtet über den Superfood-Hype, der in weit entfernten Anbaugebieten meist auf Kosten von Mensch und Natur geht. Dabei gebe es regionale Alternativen von Brennnessel bis Heidelbeere, die ebenso gesund seien: „Was die Brennnessel im Gegensatz zum Matcha-Pulver nicht hat, ist die Lobbyarbeit und eine gute Marketingabteilung“, erklärt Martina.

„Was die Brennnessel nicht hat, ist Lobbyarbeit und eine gut Maketingabteilung.“

Martina von Brot für die Welt
Sabrina weiß, wo es lang geht. Auch analog.
Foto: Janin Thies

Das soll sich an diesem Abend ändern. Auf dem Menüplan stehen unter anderem heimische Sprossen, Johannisbeeren, Heidelbeeren, Blumenkohl und Kimichi, ein Kohlgemüse aus der koreanischen Küche, das in der Cocina mit veganer (!) Fischsauce hergestellt wird. Alle Zutaten konnten die Gäste zuvor als Paket abholen oder selbst einkaufen. Beim Coci-na-Paket kommt selbst der Honig nur ein paar Meter entfernt vom Dach der Alten Mu. Und wie zum Beweis sehen wir durch die Fenster des Erdgeschosses noch während des Kochse-minars eine Frau im Imkeranzug vorbeilaufen.

Marcel mit schwarzer Kochjacke, den Namen in Schreibschrift aufgestickt, ist schnell in seinem Element. Er erklärt, wie er dank des Krallengriffs gefahrlos Zwiebeln schneidet, spielt bewusst mit verschiedenen Blickwinkeln Alle Kameralinsen auf Marcelin Töpfe und Pfannen, beantwortet Fragen, setzt Brühe an, während der Heidelbeer-kompott vor sich hin köchelt, und geht dazu über, den Teig für die Hafertaler anzurühren. Auch an den Webcams der Teilnehmenden bewegt sich etwas. Je nach Perspektive sehen wir nur ein Gemü-semesser auf und nieder schwingen oder Ameisenmenschen, die zwischen Tisch und Herd hin und her laufen.

Spätestens an dieser Stelle wird es für Alexa hektisch. Die Studentin hat sich vorgenommen, das Menü für ihre ganze WG zu kochen, und muss neben dem Zuschauen und -hören die dreifache Menge verarbeiten. „Da fehlte mir doch der Pausenknopf“, erzählt sie später. Unter Zeitdruck zu kochen, hat sie eher als unangenehm empfunden. Auch fehlte ihr die Interaktion mit anderen Teilnehmer*innen. Gerade durch das Online-Format ist sie deshalb nicht so richtig in ihren gewohnten „Koch-Flow“ gekommen. „Andererseits wäre ich wohl nicht extra nach Kiel gefahren, um am Kochkurs teilzunehmen.“ Immerhin: Ihre WG sei begeistert gewesen, und insbesondere den Blumenkohlreis mit Kimichi wird Alexa in ihre vegane Rezeptsammlung übernehmen.

„Da fehlte mir doch der Pauseknopf.“

Teilnehmerin Alexa
Alle Kameralinsen auf Marcel. Foto: Janin Thies

„Probier mal, ob gar“, hat Sabrina inzwischen auf ihre Tafel in der Cocina geschrieben. Die Hafertaler sind ein wenig zu dick geworden, sollten aber nur auf kleiner Flamme brutzeln. Marcel nimmt's gelassen und hält das Smartphone über die Pfanne, um den Zuschauer*innen zu zeigen, wie der Käse auf dem heißen Bratling schmilzt. Nach zweieinhalb Stunden ist alles im Kasten und auch die Teller sind schick dekoriert. Allmählich wird es im improvisierten Fernsehstudio, im parallel laufenden Online-Chat und auch vor den Webcams ruhiger. Alle freuen sich nur noch aufs Essen, schicken aber noch das ein oder andere Foto ihrer Kreation über den Server.

„Wir freuen uns auf das nächste Mal“, verabschiedet sich Marcel mit Blick in die Kamera. Nicht nur für das Bündnis Eine Welt, sondern auch für die CoWorking Kitchen war diese Premiere der Versuch, in der Corona-Krise neue Wege zu gehen. Einige Monate standen die Töpfe hier weitgehend still. Mit der Absage von Veranstaltungen brachen auch Catering-Einnahmen weg. Und so bot der rote Teppich für heimische Superfoods gleichzeitig lokalen Gastro-Profis eine Plattform, ihr Supertalent unter Beweis zu stellen. Das Rampenlicht haben sich beide verdient.

Wieso in die Ferne schweifen

Auch mit veganer Schokolade wird in der Cocina experimentiert.
Foto: Janin Thies

Der Begriff "Superfood" wird immer häufiger für Werbezwecke genutzt. Superfoods zeichnen sich tatsächlich meist durch einen hohen Gehalt an wertvollen Inhaltsstoffen aus. Zu kritisieren ist aber, dass kein gesundheitlicher Mehrwert zu heimi-schen Alternativen besteht, die Früchte häufig mit Schadstoffen belastet sind und die weiten Transportwege alles andere als klimafreundlich sind. Für die Menschen in den Herkunftsländern bedeutet die Entdeckung einer neuen Superfrucht durch europäische oder amerikanische Lebensmittelkonzerne häufig größere Abhängigkeit. Für die Industrie geht es hingegen um doppelte Gewinne. Beispielsweise führten künstlich erzeugte Exklusivität und steigende Nachfrage bei Quinoa in Kolumbien, Peru und Bolivien zu enormen Preissteigerungen. Statt ihres heimischen Getreides greifen arme Bevölkerungsschichten dann zu Nudeln, Brot und Reis, die wiederum von den bekannten Lebensmittel-Giganten massenhaft produziert, exportiert und billig angeboten werden können.

Goldhirse und Leinsamen sind gute Alternativen zu Quinoa und Chia. Statt zu Goji und Cranberry können wir zu Johannisbeeren und Hagebutte greifen. Reich an Antioxidantien ist die Brennnessel und steht somit Matcha in Sachen Gesundheit in nichts nach. Schließ-lich ist kein Nahrungsmittel für sich einfach nur super. Es kommt auf Ausgewogenheit und Vielfalt an. Für Konsum und dessen Auswirkun-gen gilt: nachdenken, hinterfragen, informieren.

Wollt ihr mehr über Nachhaltigkeit und die Sustainable Development Goals in Schleswig-Holstein erfahren?

Dann besucht unser Projekt: www.bei-sh.org/sdg-17

Mehr zum Angebot der Cocina Coworking Kitchen findet ihr hier:

www.coworkland.de/spaces/cocina-coworking-kitchen-kiel

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