Alte Jeans, neue Perspektiven
Zu Besuch beim Textillabel Bridge & Tunnel in Hamburg
Text: Benjamin Hellwig
Textilproduktionsstandort Deutschland: Das Denim-Label und Sozialunternehmen „Bridge & Tunnel“ produziert seit 2016 im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg. Aus Alttextilien und Materialüberschüssen entstehen Produkte mit neuem Lebenszyklus. Die beiden Gründerinnen beschäftigen gesellschaftlich benachteiligte Menschen sowie Geflüchtete, die erst vor kurzer Zeit nach Deutschland gekommen sind.
Kaum von der A7 runter schlängelt sich der Asphalt der Köhlbrandbrücke hinauf in den Novembernebel, vorbei an gigantischen Containertürmen und wieder hinunter auf die größte Binneninsel Deutschlands. Die Elbinsel Wilhelmsburg ist Hamburger Stadtteil und Zuhause von rund 55.000 Menschen.
Ein paar Schritte durch den Innenhof des hufeisenförmigen Kanalgebäudes, die Treppe hoch ins zweite Obergeschoss und über die nächste Brücke, einen kleinen Laubengang: Willkommen beim Label Bridge & Tunnel. Die Glastür steht offen. Ein Hochregal voller gebrauchter Jeanshosen ist zu sehen, davor Zuschnitttisch und einige Profinähmaschinen, dahinter eine breite Fensterfront mit Blick auf den Veringkanal. Constanze Klotz winkt uns rein. Die 38-Jährige leitet zusammen mit Hanna Charlotte Erhorn ein ungewöhnliches Label in einem besonderen Stadtteil. Inmitten Hamburgs beschäftigen die beiden Gründerinnen gesellschaftlich benachteiligte Menschen sowie Geflüchtete, die erst vor kurzer Zeit nach Deutschland gekommen sind. Das Konzept: nachhaltig und fair in Deutschland produzieren.
Wilhelmsburg sei ein besonderer Stadtteil mit vielen Menschen ohne Arbeit, meint Kulturwissenschaftlerin Klotz. Die Arbeitslosenquote liegt mit etwa neun Prozent deutlich über dem Durchschnitt der Stadt. Chancen und Herausforderungen liegen eng beieinander. In diesem Setting beginnt für Klotz und Erhorn alles mit dem Stoffdeck. Den Co-Working-Space, eine Gemeinschaftswerkstatt für Modeund Textildesigner, gründen die beiden Frauen 2013. Professionelle Designer, aber auch kreative Do-it-yourselfler können sich unkompliziert für Stunden, Tage oder dauerhaft in die Räume einmieten. Auch Workshops können belegt werden.
Zusammen überlegen Klotz und Erhorn dann, mehr Angebote für den Stadtteil zu schaffen, bringen Designer mit Langzeitarbeitslosen zusammen. Dann hören sie von einem deutsch-türkischen Nähclub, der sich wöchentlich in einer Wilhelmsburger Moschee trifft. „Sie brachten ihre Haushaltsnähmaschinen von zu Hause mit, schoben ein paar Tische zusammen und nähten gemeinsam. Und Lotte und ich sagten, hey, wir haben hier das super Profi-Equipment, trefft euch doch einfach bei uns im Stoffdeck!“
Der Weckruf für das Label ist da. Die beiden Gründerinnen sind fasziniert von den handwerklich talentierten Menschen, beobachten aber auch: Alle haben mittwochvormittags Zeit, hierher zu kommen. Viele sind 15 Jahre oder länger in Deutschland und hatten noch nie einen geregelten Job. „Unsere Generation krankt ja bekanntermaßen an dieser Work- Life-Balance-Herausforderung. Und ich fragte mich, was ist denn, wenn du keine Work hast. Hast du dann nur Balance? Ich glaube nicht. Ich spürte, wie privilegiert es ist, Arbeit zu haben“, sagt sie.
„Aber jeder hat doch nur einen Popo.“
Hier das Talent, da die Arbeitslosigkeit. Die erlernten Fähigkeiten sind bei vielen Näherinnen und Nähern nicht verbrieft, die Aussichten auf berufliche Beschäftigung daher minimal. Klotz und Erhorn sagen sich: „wenn sie keiner nimmt, machen wir es halt selbst.“ Sie gründen ein Textillabel, das genau diese beiden Welten miteinander vernäht: Menschen sollten Zugänge zum Arbeitsmarkt erhalten, die handwerklich geschickt sind, die hierfür aber kein Zeugnis haben. Nach einem Bericht und Aufruf in einem Wilhelmsburger Wochenblatt gehen mehr als 60 Bewerbungen rein. „Wir wussten gar nicht, was wir da losgetreten hatten, aber es war sehr schön zu sehen, dass sich so viele Menschen angesprochen fühlen“, sagt Klotz. Heute sind die Mitarbeitenden das „Herzstück“ von Bridge & Tunnel, wie Klotz sagt. Sie kommen aus sechs Ländern. Für den klassischen Arbeitsmarkt galten sie als zu alt oder ohne Zeugnis nicht vermittelbar. Manche haben eine Fluchtgeschichte hinter sich, andere haben körperliche Beeinträchtigungen oder zu wenig Deutschkenntnisse.
An einer Nähmaschine fertigt Mandeep Kaur gerade Bum Bags. Die stylischen Bauchtaschen sind aus hellem Jeansstoff hergestellt und werden in der werkstatteigenen Siebdruckanalage veredelt. „Meine Mutter war Schneiderin, bei ihr habe ich alles gelernt“, sagt die 41-jährige gebürtige Inderin. Sie ist seit Anfang an dabei, machte ein Praktikum, als die beiden Gründerinnen noch in der Planungsphase von Bridge & Tunnel stecken, klopft im Anschluss hartnäckig für einen Job an. Und bekommt ihn.
Das Material, mit dem Kaur und ihre sechs Kolleginnen und Kollegen arbeiten, stammt größtenteils aus der benachbarten Kleiderkammer. Alttextilien und Materialüberschüsse, sogenannter post- and pre-consumer waste, wird für das Label zur wertvollen Materialressource. Textildesignerin Erhorn entwickelt in der Experimentierphase erste Kollektionsideen aus abgelegten Jeanshosen, die für Ausgabestellen zu verschlissen sind. Denim, größtenteils aus konventioneller Baumwolle und damit extrem wasserintensiv und meist mit Einsatz von Pestiziden produziert, lässt die Kleiderkammer und manchen Kleiderschrank zu Hause förmlich ersticken. „Jeder hat eine im Schrank, meistens aber sogar mehr als das. Lotte sagt immer so schön, 'aber, jeder hat doch nur einen Popo'“, kommentiert Klotz.
„Wir setzen uns dafür ein, dass textile Produkte wieder mehr kosten müssen.“
Die beiden denken die Ressource weiter. Aus dem ehemaligen Beinkleid entsteht Neues. Auch das robusteste Denim zerschleißt, meist aber an neuralgischen Punkten. Knie, Saum und Schritt sind für Mandeep Kaur und ihre Kolleginnen meist unbrauchbar. Die komplette Rückseite aber ist häufig geradezu unversehrt. „Auch Oberschenkel oder Schienbeinbereich sind Filetstücke, die wir raustrennen und dann im Patchworkverfahren neu vernähen“, sagt Erhorn. So schaffen sie aus einem Textil, das ausgedient hat, neue textile Flächen, die ein frisches Gesicht bekommen. Der Kreislauf kann weitergehen. „Das treibt uns total an. Aus einem vermeintlichen Rest wird ein wunderschönes neues Produkt, dem du die Geschichte nicht ansiehst. Kissen, Tasche, Bauchtasche sehen aus wie neu“, sagt sie.
Asiye Yalçinkaya geht von Tisch zu Nähmaschine, spricht mit Kolleginnen, nimmt einige Textilien in die Hand. Die Hamburgerin ist studierte Bekleidungstechnikerin mit türkischen Wurzeln. Sie ist zuständig für Schnitte und Passform, begleitet das Produktionsteam als Anleiterin und überführt die Designs in die Produktionsreife. Als sie sich nach der Gründung des Labels als Näherin bewirbt und anfängt, steigt sie schnell auf. „Job und Familie sind hier sehr gut vereinbar“, sagt die dreifache Mutter.
Während die Näherinnen an Tisch und Maschine arbeiten, wird deutlich: Wo normalerweise Meterware auf den Tisch kommt und in mehreren Lagen gleichzeitig verarbeitet wird, stehen zeitfressende Vorarbeiten an. Das Upcycling ist aufwendig und damit kostenintensiv: Jeanshosen waschen, auftrennen, aufbereiten. Erst dann folgen Zuschnitt und Näharbeiten. Zudem treibt der in der Branche ungewöhnliche Produktionsstandort Deutschland die Preise nach oben. „Wir setzen uns dafür ein, dass textile Produkte wieder mehr kosten müssen“, betont Klotz. Bridge & Tunnel zahle tarifliche Löhne, die über dem Mindestlohn liegen. Unterstützung erfährt das gemeinnützige Label aktuell von einem privaten Investor sowie dem Unternehmen Aurubis. „Sie haben wahnsinnig dazu beigetragen, dass wir vom Krabbeln ins Laufen gekommen sind“, kommentiert Klotz.
„Morgen machen wir mal radikal den Onlineshop zu.“
Die Produkte vertreibt das Label über den eigenen Onlineshop sowie über 25 stationäre Läden. Zudem werden mit dem Thema Eco- Design Resttextilien von Unternehmen in hochwertige Designprodukte überführt, die dann wieder in den Kreislauf des jeweiligen Unternehmens zurückgehen.
Wo die Konkurrenzfähigkeit sinkt, steigen die Herausforderungen. Gleichzeitig aber positioniert sich das Label mutig mit seinen Werten. Wie es der Zufall will, fallen am nächsten Tag unseres Besuches eine bundesweite Demo der Fridays-for-Future-Bewegung und die On- und Offline-Rabattschlachtmaschine Black Friday zusammen. „Morgen machen wir mal radikal den Onlineshop zu. Wir sind nicht daran interessiert, an rauschhaften, sinnlosen Ausverkäufen mitzumachen“, sagt Klotz. Das Label wolle sich vielmehr dafür einsetzen, dass Arbeit immer gleich viel wert ist. Kunden gingen dadurch nicht verloren, im Gegenteil, meint sie. „Es ist eine Vertrauensmaßnahme, die zeigt, dass wir zu den Werten stehen, die wir aussprechen. Und manch einer denkt, dann kauf ich dort erst recht. Eben erst am Samstag.“
Als um 2015 herum viele geflüchtete Menschen nach Deutschland kommen, öffnet das Label sein Konzept weiter. Von den 40 Bewerbungen für einen Praktikumsplatz sind fast alle Männer. 25 von ihnen absolvieren dann schließlich das Praktikum, den allerersten stellen sie ein. Sayed Mohabatzadeh, gebürtiger Afghane, arbeitet im Irak als Herrenschneider und flüchtet 2013 mit seiner Familie von dort nach Hamburg. Er erhält zunächst eine Aufenthaltsgestattung. Bridge & Tunnel will ihn einstellen, kämpft mit ihm für eine Arbeitserlaubnis. Über den festen Vertrag gelingt es schließlich. „Mit Arbeit zurück ins Leben“, kommentiert Klotz. „Es ist schön zu beobachten, wie Menschen durch die Arbeit wachsen.“
Die Zusammenarbeit im Label ist familiär und geht über das Engagement in den Werkstatträumen hinaus. Zusammen suchen sie eine Wohnung für eine Kollegin, übersetzen und erläutern Behördenpost für fast alle Mitarbeitende. „Wir können vieles, aber nicht alles abfedern. Wir müssen den Betrieb auch wirtschaftlich führen“, meint Klotz. Die Innenund Außenministerin, wie sie sich und Erhorn nennt, hätten dann eh schon richtig viel zu tun.
Mehr als genug zu tun gäbe es auch im großen Stil. Klotz blickt zum Abschluss unseres Besuches auf die Bekleidungsbranche, betont, dass es politische Gesetze geben müsse, die den Spieß umdrehten. „Zudem müssen unfaire Produkte mehr kosten als faire. Kunden sollten draufzahlen, wenn sie unnachhaltig einkaufen. Wenn ich nie einem textilen Produktionsbetrieb begegne, dann weiß ich nicht, dass es tatsächlich keine Maschine gibt, die unten einen Rucksack rauswirft, wenn ich oben die Jeans reinwerfe. Bei jedem Teil, auch in der Fast-Fashion- Industrie, sind echte Menschen involviert. Ich wünsche mir, dass wir alle ein größeres Thema daraus machen. Es muss ein Wandel passieren, weil wir alle da drinhängen. Und ich würde es gerne noch selbst erleben.“
Lust auf ein Jeans-Unikat? Bridge & Tunnel fertigt jedes seiner
Designs auch aus privaten Jeans, um „geliebten Weggefährten ein
neues Leben in neuer Gestalt zu schenken“.
Weitere Infos unter www.bridgeandtunnel.de/jeans-unikat