Die Entstehung einer Vision: Ghayets Einsatz für Umweltschutz in Tunesien

Autorin: Andrea Ramelow

Ich treffe Ghayet in einem gemütlichen Café in der Nähe ihres Arbeitsbüros. Draußen regnet es und das Café ist gut besucht. Ich beginne das Interview direkt, da ich sehr neugierig auf ihre Lebensgeschichte bin. Was hat sie motiviert, sich für Projekte wie Klimadialoge 2.0 (https://www.bei-sh.org/klimadialoge-2-0) in Afrika zu engagieren? Welche Herausforderungen musste sie bisher überwinden? Wie sind die sprachlichen und kulturellen Unterschiede zwischen Nordafrika und Deutschland? Und wie sieht ihre Zukunftsvision aus? All diese Fragen hat sie mir beantwortet und ich werde in diesem Blog davon berichten.

Ghayets Lebensweg

Ghayet hat in ihrem Heimatland Tunesien Agrarwissenschaften studiert und hat 2008 in Biowissenschaften promoviert. Im Jahr 2009 begann sie eine Postdoc-Stelle am Zoologischen Institut der CAU-Kiel mit dem Schwerpunkt auf Populationsgenetik. Hier in Kiel lernte sie ihren Partner kennen, was ihr Leben veränderte. Danach bekam das Paar zwei Kinder, die mittlerweile in die 5. Klasse gehen.

Tunesien (arabisch تونس) ist ein Staat in Nordafrika. (Es ist ungefähr doppelt so groß wie Österreich). Hauptstadt Tunis. Mit 12 Mio. Einwohner zählt zu den weniger dicht besiedelten Staaten. Währung: tunesische Dinar (1 EUR = 3,2961 TND). Am 20. März 1956 feiern sie die Unabhängigkeit von Frankreich. In Tunesien stoßen mediterranes und arides Klima aufeinander. Südlich des Atlas herrscht ganzjährig trockenheißes Wüstenrandklima.  Niederschläge: 400 mm pro Jahr (in Schleswig-Holstein 800 mm pro Jahr). Die Temperaturen erreichen hier Maximalwerte bis 45 °C. Sprache: Tunesisch-Arabisch. Der Islam ist in Tunesien Staatsreligion.

Abb. 1. Der Johannisbrotbaum ist ein äußerst hitze- und trockenresistenter, immergrüner und ein Symbol für Tunesien

 

Im August 2020 wurde Ghayet arbeitslos, weil ihr Vertrag an der CAU endete, als der Leiter der Arbeitsgruppe Populationsgenetik in den Ruhestand ging und die nachfolgende Professorin nicht im Bereich Populationsgenetik bei Wildtieren arbeitete. Nicht nur die Pandemie, sondern auch dieser Richtungswechsel bei der Arbeit stellte ihr Leben erneut auf den Kopf. Ghayet wirkt sehr entschlossen und zielorientiert. Diese Wahrnehmung bestätigte sich, als ich mehr über ihre Geschichte erfuhr.

Sie fragte sich, was sie jetzt tun soll. Einen Job im privaten Labor zu finden, gestaltete sich schwierig. Außerdem ist es herausfordernd, mit zwei kleinen Kindern einen 9-5-Job zu haben. Ihr ist klar, dass sie in ihrer Karriere viele Projekte in der Populationsgenetik und Programme zur Erhaltung bedrohter Tierarten gesammelt hat. Sie interessiert sich für das Problem der Wilderei und den Schutz gefährdeter Tierarten. Dazu hat sie ein großes Netzwerk entwickelt und kennt viele Menschen, die in dieser Szene wichtig sind. Sie möchte all diese Elemente kombinieren und sich für ihre Region einsetzen.

Inspiriert von ihrer Leidenschaft für Tiere und Umwelt hegte Ghayet schon lange den Wunsch, eine Organisation zu gründen, die nicht nur ihre fachlichen Kenntnisse, sondern auch ihre Ideen und ihr Netzwerk nutzt, um Gutes zu tun. Nach zahlreichen Online-Kursen und intensiven Gesprächen mit Kolleg*innen, darunter Dr. Christian Opayi Mudimu (BEI Mitglied und beteiligt an Klimadialoge 2.0), beschloss sie, den Schritt zu wagen. Im Januar 2022 wurde die gemeinnützige Unternehmergesellschaft "Wildlife Support for Survival (WSS) gUG"1 offiziell gegründet. WSS engagiert sich für die Förderung von Wissenschaft und Forschung in Deutschland sowie in Partner*innenländern, hauptsächlich in Nordafrika und im Nahen Osten. Sie setzt sich auch aktiv für den Schutz von Tieren und der Umwelt ein.

Abb. 2 Setzlinge vom Johannisbrotbaum für die Pflanzaktionen

Eines der ersten Projekte von WSS war die Erhaltungsmaßnahme für den Berberhirsch in Tunesien. Die Förderung dafür erhielt Ghayet von BINGO! Die Umweltlotteriem sowie das Projekt Klimadialoge 2.0. Dank ihrer Sprachkenntnisse in Deutsch, Englisch, Französisch und Arabisch konnte sie problemlos mit verschiedenen Partner*innen kommunizieren. Trotz einiger Herausforderungen, darunter Mentalität und Vertrauensfragen, gelang es ihr, das Projekt erfolgreich umzusetzen. Durch ihre bestehenden Netzwerke konnte sie weitere Projekte vorantreiben, darunter ein großes Antiwilderei-Projekt in Algerien.

Ghayet und ihre Organisation haben Informationen über das Klimadialogprojekt auch von Dr. Opayi Mudimu erhalten. Sie kooperieren für dieses Projekt mit Soli&Green und TounesCleanUp, zwei tunesischen NGOs, die Aufforstungsprojekte durchführen und gegen Umweltkatastrophen kämpfen. Schulen und Dörfer in drei Provinzen im Nordwesten Tunesiens - Béja, Bizerte und Jendouba - sollten an dem Projekt teilnehmen. Die Hauptziele sind die Umwelterziehung von Schüler*innen und Bewohner*innen ländlicher Gebiete sowie die Sensibilisierung für die Bedeutung des Kampfes gegen den Klimawandel und die Förderung der Ernährungssicherheit. Am Anfang wollten sie mit der Aufforstung und den Anpflanzungen beginnen, um genügend Zeit zu haben, Pflanzen zu gießen und die Anpflanzungen zu ersetzen, die im ersten Jahr des Projekts nicht erfolgreich waren. Außerdem wählten sie die Grundschulen aus, wo sie ihre Sensibilisierungsarbeit durchführen wollten. Bildungsmaterialien haben sie dazu auch entwickelt.

Abb. 3 Die Hülsenfrüchte der Johannisbrotbaum in Tunesien: Ein großer Sortenreichtum, den es zu bewahren und aufzuwerten gilt

Die Pflanzaktionen verliefen unter guten Bedingungen, was darauf zurückzuführen ist, dass Ghayets Partner in Tunesien auf diese Art von Projekten und Aktionen spezialisiert ist und direkt mit dem Staat zusammenarbeitet. Für dieses erste Projektjahr planen sie, die Ziele für die Anpflanzung von Johannisbrotbäumen Ende April/Anfang Mai 2024 zu erreichen.

Herausforderungen bei der Projektumsetzung

Ich frage Ghayet nach den Herausforderungen, die sie bis jetzt gefunden hat. Sie sagt: Ja, manchmal gibt es Schwierigkeiten mit den Formalitäten und Genehmigungen. Ohne Kontakte kann man nicht arbeiten; ein starkes Netzwerk ist sehr wichtig. Dieses Phänomen tritt überall auf.

Die kulturelle Anpassung ist auch sehr wichtig. Sie sagt dazu: Lösungen, die beispielsweise in Deutschland erfolgreich sind, funktionieren möglicherweise anderswo nicht oder erfordern Anpassungen an die lokale Situation. Dies ist etwas, das nur Menschen verstehen können, die mit der Landeskultur und Mentalität vertraut sind. Korruption ist auch ein Problem.

Glücklicherweise sind in Schleswig-Holstein Anträge und Informationen ordentlich organisiert, so Ghayet. Hier in Deutschland sei alles klar strukturiert: Man entwickelt eine Projektidee, plant Aktivitäten und Aktionen, erstellt einen Zeitplan und erhält anschließend die Förderung, wenn alles nach Plan läuft.

Klimakrise und “(Entwicklungs-)hilfe”

Aufgrund ihrer geografischen Lage sind die Länder Afrikas viel stärker und schon seit langem von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen.

Ghayet ist der Meinung, (Entwicklungs)programme sind oft nicht auf die lokalen Bedürfnisse zugeschnitten. Viele Organisationen investieren lediglich Geld, um "gute" Zahlen für ihre Berichte zu generieren, ohne nachhaltige Veränderungen vor Ort zu bewirken. Aus diesem Grund legt Ghayet besonderen Wert darauf, jedes Projekt persönlich zu überwachen und auch nach dem Abschluss des Projektes in engem Kontakt mit den Menschen vor Ort zu bleiben.

Trotz ihrer Lösungsansätze macht sich Ghayet Sorgen um die Zukunft. Sie betont, dass in allen afrikanischen Ländern Not herrscht, und in Tunesien die Auswirkungen der Klimakrise bereits deutlich und lange spürbar sind. Sie sagt, Wasserknappheit führt zu Hunger und Armut, und die Menschen versuchen zu fliehen.

In den Nachrichten hören wir immer wieder von geflüchteten Menschen aus Afrika, die nach Europa versuchen zu fliehen. Aber wie hoch ist tatsächlich die Anzahl der Menschen, die nach Europa kommen? Laut dem UN-Flüchtlingszentrum wurden bis Mitte 2023 weltweit 110 Millionen Menschen zwangsweise vertrieben, aufgrund von Verfolgung, Gewalt, Konflikten oder Menschenrechtsverletzungen. Die Mehrheit von ihnen blieb in ihrem eigenen Land (>60%) auch Binnenmigration genannt. Von den restlichen 40% fanden ca. dreiviertel Aufnahme in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Die Menschen sind entweder glücklich, in dem Land zu leben, in dem sie geboren wurden, oder sie können es sich nicht leisten, woanders hinzuziehen.

 

Ghayet äußert auch Frustration über internationale Bemühungen wie die Sustainable Development Goals (SDGs) und die Konferenzen der Vertragsstaaten (COPs). Sie hinterfragt, welchen wirklichen Nutzen diese für die Menschen vor Ort gebracht haben. Ihrer Meinung nach ist die Verwaltung dieser Programme fehlerhaft und muss dringend überdacht werden.

 

Acht Jahre nach Beginn der Umsetzung der SDGs ist „mehr als die Hälfte der Welt“ im Rückstand und „die Fortschritte bei mehr als 50 Prozent der SDG-Ziele sind schwach und unzureichend“2. Von den 25 Ländern, die in jüngster Zeit die Armut halbiert haben, liegt kein einziges südlich der Sahara3. Es ist paradox, dass viele Länder sich für einen umfassenden Zugang zu erschwinglicher, zuverlässiger und nachhaltiger Energie einsetzen, während ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung immer noch keinen Zugang zu solchen Technologien hat. Gleichzeitig werden die wirtschaftlichen Interessen derjenigen, die über solche Technologien verfügen, durch Handelsregeln geschützt, die von der Welthandelsorganisation (WTO) durchgesetzt werden. Diese Technologien sind hauptsächlich in den Händen wohlhabender WTO-Mitglieder, die zwar ihre Unterstützung für die SDGs betonen, aber keine konkreten Maßnahmen zur Umsetzung des Ziels 7 - der Bereitstellung moderner Energie für alle - ergreifen. In den Berichten der WTO4 über ihre eigenen "Beiträge zur Erreichung der SDGs" wird Ziel 7 - die Bereitstellung moderner Energie für alle - nicht erwähnt.

 

Ghayet wartet nicht darauf, dass Lösungen vom Himmel fallen. Stattdessen hat sie aktiv ein Projekt in Tunesien ins Leben gerufen, bei dem sie Vertreter*innen aus dem Bereich der Forstwirtschaft eingeladen und vernetzt hat. Sie plant, ein größeres Projekt zur Bewältigung der Klimakrise in ihrem Heimatland zu starten. Die Wälder im Norden Tunesiens leiden nicht nur unter den Auswirkungen von Hitze und Trockenheit der letzten fünf Jahre, sondern auch unter Parasiten, die sich aufgrund dieser Trockenheit schneller verbreiten können. Ghayet ist der Ansicht, dass Abholzung nicht die erste Lösung sein sollte, die umgesetzt wird. Sie setzt sich stattdessen für biologische Lösungen ein. Mit großer Leidenschaft spricht sie über ihr Heimatland, und ihre Beschreibungen wecken schnell in mir das Verlangen, Tunesien zu besuchen.

Zukunftspläne

Ghayet strebt danach, ihr Netzwerk zu erweitern und mit anderen Organisationen, wie zum Beispiel dem WWF Mediterranean, zusammenzuarbeiten, insbesondere lokal für Nordafrika auf politischer Ebene. Sie betont, dass Politik und Umwelt leider untrennbar miteinander verbunden sind. Sie ist davon überzeugt, dass wir ohne die Zustimmung der Politiker*innen, auch wenn es für die Umwelt von Vorteil wäre, wenig ausrichten können. Ihr Ziel ist es, mehr Einfluss und vor allem Wirkung in ihrem Land zu erlangen, um die Umwelt zu schützen und geeignete Lösungen für verschiedene Gebiete zu finden.

Nach diesem inspirierenden Gespräch verabschieden wir uns, und ich bin voller Hoffnung und Inspiration angesichts von Menschen wie Ghayet, die so aktiv und lösungsorientiert sind.

 
 
 
 
[1] Wildlife Support for Survival, 2024, https://wild-life-survival.com/.
[2] United Nations, 2023. The Sustainable Development Goals Report 2023. Towards a Rescue Plan for People and Planet. Abrufbar unter: https://unstats.un.org/sdgs/report/2023/The-Sustainable-Development-Goals-Report-2023.pdf, zuletzt besucht am 08.07.2024.
[3] UNDP, 2023.Global Multidimensional Poverty Index 2023 - Unstacking global poverty: Data for high impact action. Abrufbar unter: https://reliefweb.int/report/world/global-multidimensional-poverty-index-2023-unstacking-global-poverty-data-high-impact-action, zuletzt besucht am 08.07.2024.
 

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