Nachgefragt

Nützlich statt weniger schädlich

Im Gespräch mit Prof. Dr. Michael Braungart

Interview: Benjamin Hellwig

Schützen wir die Umwelt, wenn wir sie weniger belasten? Prof. Dr. Michael Braungart vom Hamburger Umweltforschungsinstitut EPEA sagt: Weniger schlecht ist nicht gut. Stattdessen möchte er, dass wir mit unserem Handeln für andere Stoffkreisläufe nützlich sind. Der Chemiker entwickelte das Cradle-to-Cradle-Konzept, bei dem Produkte bereits in der Entwicklungsphase als Nährstoffe für die Bio- oder Technosphäre konzipiert werden. ZUKUNFT.GLOBAL hat nachgefragt.

Herr Professor Braungart, wir Deutschen klopfen uns weltmeisterlich auf die eigene Schulter, wenn das Thema Mülltrennung auf den Tisch kommt. Wie intelligent produzieren und verwerten wir aktuell in Deutschland?
Wir leben von einem Image, das wir Ende der 1980er-Jahre einmal hatten. Die Realität ist eine andere. Wir hatten noch nie so viel Verpackungsmüll wie heute. Wir sind absolut nicht führend in der Welt. Es steckt nach wie vor PVC in Verpackungen, noch immer sind giftige Pigmente in Verwendung. Dazu kommt: Wenn die Menschen nur nach dem Hausmüll schauen, schauen sie ohnehin nur zu kurz. Wir haben hier in Hamburg eine Kupferhütte, die viermal so viel Müll verursacht wie das gesamte europäische Hausmüllaufkommen.

Prof. Dr. Michael Braungart aus Hamburg
Foto: EPEA GmbH

Welche Beispiele zeigen, dass wir beim Thema Schadstoffe in Kunststoffverpackungen noch nicht weiter sind als vor dreißig Jahren?
Sie fassen einen Fahr- oder Parkschein oder einen Kassenbon an und nehmen sofort über das Thermopapier zwei Dutzend Chemikalien in Ihren Blutstrom auf. Diese Dinge sind nie für den Hautkontakt gemacht. Dieses Thermopapier ist ein Verbrechen an der Menschheit. Das gilt auch für andere Alltagsgegenstände. Wir fanden in Kinderspielsachen etwa 600 giftige Stoffe, allein von der Firma Mattel. Die EU verbietet anstatt 39 jetzt 64 Chemikalien, also etwa zehn Prozent der von uns gefundenen. Die Leute verwenden jetzt Papier- anstatt Plastiktüten, dabei ist das meiste verwendete Papier tatsächlich Plastik: In vielen Tüten ist ein Kunststoff, ein sogenannter Nassfestigkeitsstabilisator, verarbeitet, damit sie bei Nässe nicht bricht.

Dann denke ich daran, dass Schultaschen aus Lkw-Planen gefertigt werden, die nie für Innenräume gemacht waren, da sie voller Schwermetalle wie Blei und Kadmium sind. Es entsteht eine Art Ökologismus, der der Ökologie nicht dient. Und es fehlt an Qualifikation, gerade auch in politischen Bereichen. Anstatt zu begreifen, dass das Umweltthema das allereinzige Inovationsthema ist, was uns Europäern geblieben ist, verstehen wir es als Moralthema und vergessen die Moral immer dann, wenn es uns schlecht geht.

„Kein Tier macht Abfall – warum sollten wir dümmer sein als andere Lebewesen?“

Prof. Dr. Michael Braungart

Wie kann es gelingen, Materialien von Produkten als echte, nützliche Ressourcen zu betrachten?
Es ist ein langer Weg, echte Änderungen brauchen Zeit. Zwischen der Erfindung des Mobiltelefons und der Verfügbarkeit für die Allgemeinheit sind über 60 Jahre vergangen. Wir liegen da mit „Cradle-to-Cradle“ ganz gut im Zeitplan: Es gibt inzwischen über 11.000 Produkte auf der Welt, für die es kein Abfallthema mehr gibt. Ganz einfach, weil sie bereits bei der Entwicklung als Nährstoffe für die Biosphäre oder Technosphäre konzipiert sind. Abfallvermeidung denkt immer noch an Abfall. Wir hier am Institut EPEA denken in Nährstoffen. Kein Tier macht Abfall – warum sollten wir dümmer sein als andere Lebewesen?

Grafik: EPEA GmbH

Wofür steht der biologische Kreislauf bei „Cradle-to-Cradle“?
Allgemein fordern die Leute Ökoeffizienz. Die Natur aber ist ökoeffektiv. Alles an einem Kirschbaum im Frühjahr ist nützlich, nicht weniger schädlich. Die Natur hat eine Kultur der Großzügigkeit und Verschwendung, weil alle Materialien dieses Kirschbaums wieder für die Biosphäre geeignet sind. Wir machen die falschen Dinge perfekt, und damit sind sie perfekt falsch. Es werden 470 Chemikalien verwendet, um einen Autoreifen herzustellen. Vor dreißig Jahren hielt der Autoreifen nur halb so lange, und heute denken die Leute, der neue Reifen ist ja toll für die Umwelt. Der Effekt aber ist, dass der Abrieb jetzt viel feinteiliger und giftig ist und eingeatmet wird. Hier bei uns in der Elbe ist die Hälfte der Polymere nicht etwa Mikroplastik, sondern Reifenabrieb. Stattdessen müssen die Inhaltsstoffe dieser Reifen, aber auch von Bremsbelägen, Textilien oder Schuhsohlen, positiv definiert sein. Diese Produkte verschleißen, sie müssen daher dafür gemacht sein, die Biosphäre zu unterstützen. Nicht giftig zu sein, ist zu wenig. Diese Etiketten hier auf den Flaschen beispielsweise (zeigt auf Mineralwasserflaschen, Anm. d. Red.) kann man abwaschen und mit einem Schlamm aus ihnen Shiitakepilze züchten.

Wie funktioniert der technische Kreislauf?
Alles, was nur genutzt wird, wie Fernseher, Computer oder Waschmaschine, geht in die Technosphäre. Ich verbrauche ja keine Waschmaschine, ich nutze sie nur, mit einer definierten Nutzungszeit. Ich kaufe also 3.000 Waschgänge vom Hersteller, der dann statt 150 billige und giftige Kunststoffe nur fünf einsetzt, die dann nach der Rücknahme des Gerätes praktisch endlos wieder einsetzbar sind. Dinge, die giftige Inhaltsstoffe haben, die Kinder krank und Menschen unfruchtbar machen, sind einfach nur schlechte Produkte – im Qualitätssinn, nicht im moralischen Sinn. Es geht darum, 40 Jahre Weltuntergangsdiskussion in Innovation umzuwandeln. Echte Innovation aber ist nie nachhaltig. Mit Nachhaltigkeit stabilisieren wir das Bestehen, was absolut tödlich ist für den Planeten.

„Thermopapier ist ein Verbrechen an der Menschheit“

Prof. Dr. Michael Braungart
Nach der Nutzungszeit nimmt der Hersteller Shaw die Teppichfliesen zurück, um die Inhaltsstoffe zu recyceln
Foto: www.shawfloors.com

Welches Beispiel für ein erfolgreiches Cradle-to-Cradle-Produkt können Sie hervorheben?
Eines unserer allerersten Produkte waren essbare Bezugsstoffe. Das macht diese Stoffe über 20 Prozent kostengünstiger, weil sie nach der Nutzung als Torfersatz in Gärtnereien gehen können. Wir brauchen keine Kläranlage am Ende, wenn die Intelligenz am Anfang des Produktes steht. So können diese Bezüge inzwischen in der Schweiz gefertigt werden, sie dominieren den Flugzeug- und Bus-Sektor. Und das Thema ist nach wie vor hochaktuell: Die Zuschnitte in der Möbelindustrie sind oft so giftig, dass sie als Sondermüll verbrannt werden müssen.

Sie reiben sich an Begriffen wie klimaneutral, weniger schädlich, nachhaltig ...
… eine Stadt wie Kiel möchte klimaneutral sein. Warum fällt den Menschen nicht auf, dass ich nur klimaneutral sein kann, wenn ich nicht existiere? Hat jemand schon einmal irgendwo auf der Welt einen klimaneutralen Baum gesehen? Ein Baum ist immer gut fürs Klima. Unsere Kultur sagt uns, dass es das Höchste ist, weniger schädlich zu sein. Und der Kontext ist spannend: Es gibt in der gesamten westlichen Welt kein Biosiegel, kein Demeter, kein Bioland, das erlaubt, dass meine eigenen Nährstoffe zurück dürfen. Und wir denken, es ist nur Bio, wenn wir nicht dabei sind? Bringen wir unsere eigenen Nährstoffe nicht zurück, fehlt den Böden das, was wir selber verkonsumiert haben. Wir brauchen ein völlig neues Bio.

 

 

Der biologische Kreislauf umfasst Materialien, die gesundheitsverträglich und kompostierfähig sind. Sie können dadurch am Ende ihrer Nutzung als biologische Nährstoffgrundlage neues organisches Wachstum ermöglichen. Der technische Kreislauf bezieht sich auf Materialien wie z.B. Metalle oder Kunststoffe, die als Primärrohstoffe begrenzt zur Verfügung stehen. Sie sollten in Zeiten zunehmender Knappheit und steigendem Konsum in technischen Kreisläufen zirkulieren.

 

Verbraucher verlieren zunehmend den Überblick. Was sind gute Schritte für das eigene Handeln?
Man wird es nicht schaffen, perfekt zu sein. Aber es gibt ein paar Dinge, die ich für wichtig halte. Zum Beispiel, Aluminiumfolie und -backbleche aus der Küche zu entfernen. Aluminium ist neurotoxisch, und beim Verzehr eines darauf gebackenen Kuchens nimmt man große Mengen auf. Insbesondere bei Paprika und Ruccola lohnt sich der Verzehr von Bioware. Ich habe in meinen Leben noch nie eine Probe einer konventionell erzeugten Paprika analysiert, die nicht wesentlich von Pestiziden belastet war. Bio lohnt sich besonders auch bei tierischen Fetten, bei Eiern und Milch ist es notwendig und geboten. Und man sollte wegen der starken Anreicherungen den Fleischverbrauch geringer halten. Zudem ist es empfehlenswert, in jedem Laden zu fragen: Kann ich es in meinen Kompost tun, kann ich es verbrennen, nehmen Sie es zurück? Prozesse kann man durch einfache Zivilcourage beeinflussen.

Was macht Ihnen Mut für die Zukunft?
Ich gehe davon aus, dass spätestens bis 2040 alle Prozesse Cradle-to-Cradle sein werden. Weil sie einfach wirtschaftlich sinnvoller sind. Weil die Menschen sie als Chance begreifen und nicht als Belastung. //

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